Panorama von Hela und LageplanBild: Panorama von Hela und Lageplan[1]

Der folgende Text beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung der Hafenstadt Hela, welche an der südlichen, polnischen Küste des Baltischen Meeres liegt. Die Stadt Hela befindet sich am Ende der gleichnamigen Halbinsel, welche die nördliche Abgrenzung der Danziger Bucht bildet.

Wer den Urlaubsort Hela heute besucht, findet entlang der Hauptstraße niedliche kleine Fachwerkhäuschen und eine zu einem Museum umgewidmete Backsteinkirche vor. Häuser und Kirche waren früher ein Fischerdorf und sind heute eine Touristenattraktion geworden. Niemand konnte und wollte sich bisher vorstellen, daß dieses Fischerdorf, dessen Geschichte 750 Jahre weit in die Vergangenheit reicht, in Wirklichkeit vermutlich einmal eine aufstrebende Lübecker Kaufmannssiedlung gewesen ist – die Keimzelle der Handelsstadt Hela.

Im Laufe der Jahrhunderte war Hela immer wieder dem Unbill der Naturgewalten und der Geschichte unterworfen. Die Stadt wurde unzählige Male verwüstet und immer wieder bauten die Menschen ihre Stadt wieder auf, notdürftig, mit dem, was sie noch vorfanden. Aus den Häusern der Kaufleute und Handwerker wurden so nach und nach Fischerhäuser. Dem Geist der Einwohner tat dies keinen Abbruch, sie bewahrten in mündlicher Überlieferung die Geschichte der Stadt und ihren Bürgerstolz. Wer sich vom Gedanken des Leipziger Geographen Friedrich Ratzel inspirieren läßt, der vor etwa 100 Jahren begriff, daß man im Raum die Zeit lesen könne, wird vielleicht eine andere, so nicht vermutete Vergangenheit erfahren.

Panorama (Neu-)Hela von der Halbinsel aus gesehenPanorama (Neu-)Hela von der Halbinsel aus gesehen[2]

Das historische Interesse an Hela entstand Mitte des 18. Jahrhunderts, als einzelne Danziger Ratsherren, anfingen, sich mit der Stadt Hela und ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts erwachte das Interesse erneut, diesmal jedoch auf allen wissenschaftlichen Feldern. Über den Ursprung der Stadt Hela gibt es nach wie vor nur ungenaue Überlieferungen und Theorien, zumal es Hela ihren Verehrern nie leicht gemacht hat. Die erste gesicherte schriftliche Erwähnung Helas befindet sich auf einer Urkunde aus dem Jahr 1351.[3] Hela war im Mittelalter eine Doppelstadt, bestehend aus der Altstadt (Alt-Hela), welche vollständig vom Erdboden verschwunden zu sein scheint, und der Neustadt (Neu-Hela), dem heute noch existierenden Städtchen. Diese Neustadt ist ebenfalls schon sehr alt, sie wurde vermutlich um 1250 gegründet,[4] und bestand lediglich aus einer einzigen Straße, an der auf beiden Seiten in gleichmäßig aufgeteilten Parzellen Häuser aufgereiht waren. Die breite, zwischen den Häusern liegende Straße, war später eine mit Lindenbäumen, Ziehbrunnen und einem Glockenturm bestandene Allee. Am nordwestlichen Ende der Allee, auf der Wasserseite, standen Kirche und Pfarrhaus. Laut Karlheinz Blaschke und Uwe Ulrich Jäschke, die die städtebauliche Struktur in der Umgebung von 500 Nikolaikirchen in ganz Europa untersucht haben, entspricht diese Siedlungsform genau der in Westeuropa seit der Karolingerzeit bestehenden Siedlungsform von Kaufleuten, die Fernhandel betrieben:

„Es handelt sich durchweg um straßenförmige Anlagen, die aus jeweils zwei parallel nebeneinander laufenden Häuserzeilen bestanden … Man kann in der völligen Einordnung der Kirche in die Häuserreihe die Absicht sehen, keine Ungleichheit zu schaffen und auch das Haus des Pfarrers … nicht über die Gleichheit der Gemeinschaft, der ‚Dorfgenossen‘, zu erheben.“[5]

Die oben beschriebene Art der Siedlung von Kaufleuten wurde bereits im 12. Jahrhundert als Kaufmannssiedlung (colonia mercatorum) bezeichnet. Die Kirche einer neu gegründeten Kaufmannssiedlung hatte üblicherweise denselben Schutzheiligen, wie die Marktkirche des Ursprungsortes der Kaufleute. Die heute noch existierende Kirche in Neu-Hela besaß statt eines Nikolauspatroziniums (Patrozinium = Wahl des Schutzheiligen) ein Petruspatrozinium. Die üblicherweise verwendeten Patrozinien für die Kaufmannskirchen wechselten im Laufe der Zeit. Beliebt waren neben dem Universalpatrozinium der Heiligen Maria ab 1087 [6] bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts das Nikolaipatrozinium, anschließend das Petruspatrozinium.

Kirche Sankt Paul und Peter in (Neu-)Hela

Kirche Sankt Peter und Paul in (Neu-)Hela[7]

 

Grundriss Kirche Sankt Peter und Paul in (Neu-)Hela[8]

Die Kaufleute schlossen sich anfangs in Gilden zusammen, da Einzelne noch nicht so kapitalstark waren, um ein risikoreiches Unternehmen wie den Fernhandel zu bewältigen. Dabei führten sie oft einen Geistlichen mit, um den Beistand Gottes zu erbitten, aber auch, da die Geistlichen des Lesens und Schreibens kundig waren:

„Der wandernde Priester als Begleiter der Kaufleute auf ihren Handelsreisen ist eine vertraute Erscheinung im Ostseebereich, beginnend mit der Gestalt des heiligen Ansgar, welcher christliche Kaufleute um 830 nach Schweden begleitete, und endend mit Meinhard aus Segeberg, welcher zunächst als Kaufmannspriester durch Jahre zur Dünamündung mitsegelte, ehe er sich um 1180 zur Mission bei den Liven entschloß. Auch Helmold von Bosau erwähnt in seiner Slawenchronik, daß ein Priester Gottschalk um das Jahr 1170 mit den Kaufleuten zum Heringsfang nach Rügen auszog. Es ist sicher, daß hier das Vorbild des Nowgoroder Kaufmannspriesters, der auch Schreiberdienste leisten mußte, wirksam wurde. Man darf annehmen, daß zahlreiche dieser Geistlichen aus den Reihen der Kaufleute selbst hervorgegangen sind …“[9]

Bei der Gründung einer Kaufmannssiedlung wurden mit dem entsprechenden Landesfürsten Privilegien ausgehandelt, die teilweise nur mündlich vereinbart wurden. Die Kaufmannssiedlung war in ihren Anfängen, bevor sie sich zur Stadt entwickelte und Stadtrechte erhielt, ein urdemokratisches Gemeinwesen:

„Die Kaufmannssiedlung ist nicht Dorf, aber noch nicht Stadt. … In der Kaufmannssiedlung gibt es keine Rangunterschiede, keinen Bürgermeister, keinen Stadtrat und keine herausragenden Schöffen, sondern nur gleichgeordnete Mitglieder der Gemeinschaft, die sich in der Kirchengemeinde unter dem Dach der genossenschaftlichen Eigenkirche versammeln.“[10]

Auch die Größe der Siedlung Hela entspricht der im Mittelalter üblichen Größe von Kaufmannssiedlungen. Blaschke und Jäschke gehen von einer durchschnittlichen Größe von 50 Hausstellen und etwa 250 Einwohnern aus. Hela hatte zum Zeitpunkt der preußischen Besitzergreifung 1793 66 Feuerstellen und 296 Einwohner.[11] Auch wenn Hela 1793 nur noch ein Fischerdorf mit Stadtrecht war, so ist die Ähnlichkeit zur Kaufmannssiedlung in Form und Größe doch verblüffend. Ebenfalls als eine Urform der deutschen Kaufmannssiedlung des Mittelalters gilt laut Blaschke und Jäschke die Stadt Bergen in Norwegen:

„Die Häuser stehen dort entlang der Uferstraße aufgereiht, womit sie den binnenländischen Kaufmannssiedlungen gleichen. Die vor der Küstenlinie gelegenen Bryggen sind als ursprünglich im Wasser erbaute Anlegebrücken zu verstehen … Mit dem Wachstum der Siedlung zur Bürgerstadt wurde weiter westlich die Marienkirche erbaut … Mit dem zeitlichen Nebeneinander von Nikolai- und Marienkirche im Stadtgrundriss verkörpert die Stadt Bergen einen Urtypus deutscher Handelsstädte des hohen Mittelalters.“[12]

Lageplan von (Neu-)Hela von 1904[13]

Die Ähnlichkeit mit Hela ist überraschend. Auch kann es sein, daß die Küstenlinie in Hela ebenfalls ursprünglich als Anlegeplatz für die Schiffe diente.

Die heute verschwundene Altstadt Hela war sicherlich bereits vorhanden, als die deutschen Händler nach Hela kamen und dort seßhaft wurden. Stadtrechte kann diese Siedlung von Alt-Hela kaum besessen haben. Die Ansiedlung neuer, konkurrierender Kaufleute, fast schon in Steinwurfweite zur bestehenden Siedlung, also innerhalb einer möglichen Stadtfreiheit, hat die Zustimmung des Landesfürsten erfordert und hätte, wenn die Altstadt Stadtrecht besessen hätte, nur mit einem Rechtsbruch erfolgen können.[14] Auch die neue Siedlung hatte anfangs wohl kein Stadtrecht, die Kaufleute müssen aber mit der Erlaubnis zu siedeln auch bestimmte Privilegien vom Landesfürsten erhalten haben. Wie in so vielen Städten entlang der Ostseeküste zu beobachten, übertrafen die lübischen Kauffahrer die einheimischen Händler innerhalb kurzer Zeit. So ist auch zu vermuten, daß die Neustadt der Altstadt auf Hela schnell den Rang ablief. Altstadt und Neustadt blieben jedoch nicht völlig von einander getrennt. Im Jahr 1378 verlieh der Hochmeister des Deutschen Ordens der Siedlung Hela Stadtrecht.[15] Hela besaß einen sitzenden Rat mit 12 Mitgliedern, die vermutlich aus beiden Ortsteilen, Altstadt und Neustadt, stammten. Die Kirche Sankt Peter in der Neustadt war die Hauptkirche, während die Liebfrauenkirche in der Altstadt eine Filiale war. Es gab einen Markt, ein Rathaus und ein Hospital. Wo diese lagen, ist unbekannt. Die Neustadt Hela hatte vermutlich schnell die führende Rolle inne, da zu vermuten ist, daß die dort lebenden Kaufleute finanzkräftiger waren. Hela wurde entgegen den Gewohnheiten des Deutschen Ordens[16] mit lübischem Recht bewidmet. Neben dieser Tatsache deuten aber auch noch weitere Hinweise auf einen Lübecker Ursprung der Helaer Kaufmannssiedlung hin. Das ursprüngliche Petruspatrozinium der Helaer Kirche hat seinen Ursprung vermutlich in der Petrikirche in Lübeck. Außerdem verwendeten die Helaer Fischerfamilien noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts sogenannte Fischermarken, um ihre Gerätschaften und ihr Habe zu kennzeichnen. Diese Fischermarken sind wohl ebenfalls auf das lübische Recht zurückzuführen. Auch geht die bis in das 20. Jahrhundert überdauernde genossenschaftliche Organisation der Helaer Fischer in ihrem Ursprung vermutlich auf die Selbstorganisation der mittelalterlichen Gilden in der Kaufmannssiedlung Hela zurück.

Die Bürger – Schiffer und Fischer – der Stadt Hela konnten ihr Stadtrecht übrigens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verteidigen und hielten damit einen einsamen Rekord: Hela war von 1793 bis 1872 die kleinste Stadt im Königreich Preußen! Im Jahr 1872 starb der letzte Helaer Bürgermeister, Jakob Eller, woraufhin die preußische Regierung beschloß, daß Hela eine „zu Recht bestehende Landgemeinde“ sei.[17]

Panorama (Neu-)Hela von See aus gesehen[18]

 

G. Hallmann, 24.06.2015



[1] Abbildung: SEEGER, Pfarrer: Hela – Geschichtliches und Kulturgeschichtliches. In: Mitteilungen des deutschen Seefischerei-Vereins No. 4. Moeser. Berlin 1910.
[2] Abbildung aus: SCHULZ, Karl: Tutti Frutti in malerischen Original-Radirungen mit Text. ca. 1871. ULB Düsseldorf
[3] Es handelt sich dabei um die Gründungsurkunde der Katharinenbruderschaft. Gemäß eines späteren Dokuments soll diese Bruderschaft bereits im Jahr 1311 bzw. 1333 gegründet worden sein.
[4] Beispielsweise wurde die Stadt Memel im Jahre 1253 von Dortmunder Kaufleuten gegründet, so daß die Neustadt Hela vermutlich im gleichen zeitlichen Umfeld gegründet wurde.
[5] BLASCHKE Karlheinz, JÄSCHKE, Uwe Ulrich: Nikolaikirchen und Stadtentstehung in Europa – Von der Kaufmannssiedlung zur Stadt. Berlin 2013. Anmerkung des Verfassers: Die so genannte Nikolaikirchentheorie von Prof. Karlheinz Blaschke ist in Historikerkreisen nicht unumstritten. Dennoch scheint diese Theorie aufgrund der hohen Ähnlichkeit des Siedlungsbildes der Städte Hela in Polen und Bergen in Norwegen richtig zu sein.
[6] Im Jahre 1087 wurden die Gebeine des Heiligen Nikolaus von Myra nach Bari, Italien, gebracht, worauf hin sich ein Nikolauskult in ganz Europa ausbreitete.
[7] Abbildung aus: SCHULZ, Karl: Tutti Frutti in malerischen Original-Radirungen mit Text. ca. 1871. ULB Düsseldorf
[8]Abbildung aus: HEISE, Johannes: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreussen. Erster Band: Pomerellen mit Ausnahme der Stadt Danzig. Danzig 1884.
[9] JOHANSEN, Paul: Die Kaufmannskirche im Ostseegebiet. In: Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens. Reichenau-Vorträge (1955-56). S. 499-525. Vorträge und Forschungen Bd. IV. Sigmaringen 1958.
[10] BLASCHKE Karlheinz, JÄSCHKE, Uwe Ulrich: Nikolaikirchen und Stadtentstehung in Europa – Von der Kaufmannssiedlung zur Stadt. Berlin 2013. S.26, S.28.
[11] BAHR, Ernst: Das Territorium der Stadt Danzig und die Danziger Hospitalgüter bei der Preußischen Landesaufnahme 1793. Zweiter Band. In: Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V. Nr. 57. Selbstverlag. Hamburg 1987.
[12] BLASCHKE Karlheinz, JÄSCHKE, Uwe Ulrich: Nikolaikirchen und Stadtentstehung in Europa – Von der Kaufmannssiedlung zur Stadt. Berlin 2013. S.54.
[13] Abbildung aus: WÜNSCHE, Ernst: Studien auf der Halbinsel Hela. C. Heinrich. Dresden 1904. S. 28.
[14] Die Entstehung von neuen Siedlungen in Nachbarschaft zu bereits bestehenden Altsiedlungen war im Mittelalter nicht unüblich. So gab es auch Kaufmannssiedlungen, die benachbart zu Dörfern mit slawischer Bevölkerung entstanden.
[15] Aus der Gründungsurkunde der Katharinenbruderschaft von 1351 geht hervor, daß Hela damals bereits einen Stadtrat hatte und folglich Stadtrecht besessen haben muß.
[16] Der Deutsche Orden verlieh üblicherweise das Kulmer Recht.
[17] SEEGER, Pfarrer: Hela – Geschichtliches und Kulturgeschichtliches. In: Mitteilungen des deutschen Seefischerei-Vereins Nr. 4. Moeser. Berlin 1910.
[18] Abbildung aus: SCHULZ, Karl: Tutti Frutti in malerischen Original-Radirungen mit Text. ca. 1871. ULB Düsseldorf

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